Israel: Leben mit dem Pulverfass

von Andreas Bubrowski
6. August 2004

Naomi Tereza Salmon, geb. 1965, ist Israelin und studierte Fotografie am Hassada College in Jerusalem. Sie lebt seit 1990 in Deutschland. Seit 1994 ist sie in Weimar zuhause. Hier arbeitet sie als Fotografin und ist Gastdozentin an der Bauhaus-Uni. Zum Zeitpunkt des Interviews weilte sie für mehrere Wochen in ihrem Heimatland.

Wie schaffen es die Menschen in Israel, einen normalen Alltag zu leben?

Für Außenstehende scheint das unmöglich zu sein. Aber der Nahostkonflikt ist seit 1948 allgegenwärtig. Ständig gab es Kriege. Da hat sich ein eigenes Gefühl von "Normalität" entwickelt. Die Menschen gehen ihrer Arbeit nach, schicken ihre Kinder zur Schule, fahren zur Erholung ans Meer, reisen ins Ausland. Es gibt so etwas wie eine geheime kollektive Übereinkunft: Weitermachen.

Trotz der Anschläge?

Gerade nach Anschlägen wird das deutlich. Alles wird blitzschnell renoviert. Spuren werden ausgetilgt. Manchmal wird eine Gedenktafel angebracht. Danach heißt es: weiter in Cafés oder Kinos gehen, Busse wenn möglich besser meiden oder nun erst recht Bus fahren. Überall an den Eingängen von Einkaufszentren, Vergnügungsstätten und öffentlichen Einrichtungen stehen Wächter und Sicherheitskräfte. Taschen werden gefilzt, Fragen gestellt. Eine innere Sicherheit aber fehlt und hat es so auch nie gegeben. Wenn das "normal" ist... Das ist auch Teil der Klage der Palästinenser: So lange die Israelis in Cafés gehen, alles normal treiben und unsere Leiden nicht wahrnehmen, kann es Ruhe und Frieden nicht geben.

Kennen Sie in Israel eine Politikverdrossenheit wie in Deutschland?

Ich sehe große Unterschiede. In Deutschland herrscht eine soziale Orientierungslosigkeit. Die Leute sind unzufrieden mit den Folgen kapitalistischen Wirtschaftens, sehen aber zugleich persönliche Wünsche und Ziele bedroht.

Die Situation in Israel ist anders. Hier geht es primär um die eigene Identität, rassistische Einstellungen und den ungelösten Konflikt zwischen Staat und Religion. Eine Trennung von Staat und Religion gibt es genauso wenig wie eine demokratische Verfassung. Das dem amerikanischen Modell nachempfundene politische System schafft eine Kluft zwischen Armen und Reichen. Es gibt zahlreiche engagierte Bewegungen und Gegenbewegungen. Die Politikverdrossenheit ist also von anderer Art.

Gibt es in Israel eine Chance für eine multikulturelle Gesellschaft?

Mit den Zuwanderern prallen fremde Kulturen aufeinander, deren einziger gemeinsamer Nenner die jüdische Religion ist. Eine verheerende Gastarbeiterpolitik zieht zudem Filipinos, Polen, Chinesen und Rumänen ins Land. Diese Menschen werden schlecht behandelt, einfach deswegen, weil sie keine Juden sind. Schließlich gibt es noch die arabische Bevölkerung, die sich 1948 für einen israelischen Pass entschieden haben. Sie werden als Bürger 2. Klasse behandelt und sind in ihrer Identität tief gespalten. Nicht zu vergessen sind die Gruppen jüdischer Extremisten, die versuchen, ein kleines Land mit sechs Millionen Einwohnern, davon 20 Prozent Arabern, nach ihrem Geschmack zu gestalten.

Wie beliebt ist Scharon?

Israel wird seit mehreren Jahren von militärischen Instanzen regiert. Scharon hat zudem eine problematische Vergangenheit und ist in Korruptionsskandale verwickelt. Generell leidet das Land unter der Geißel der Korruption.

Vor einigen Monaten haben junge Piloten den Befehl verweigert, Kampfeinsätze gegen zivile palästinensische Ziele zu fliegen. Gelten sie im Land als Hoffnung machende Helden?

Oh, das gab einen großen Krach. Für die Linken sind sie Helden, für die Rechten Verräter. Allerdings: Solange es nicht zu drastischen Änderungen im Land kommt, bleiben solche Aktionen ein Tropfen auf dem heißen Stein. Das gilt übrigens auch für die israelischen Frauen von Machsom Watch , die täglich zu den Grenzübergängen fahren, um zwischen Soldaten und Palästinensern zu vermitteln.

Welche Veränderungen müssten das sein?

Die Liste ist lang:
- sofortige Räumung der besetzten Gebiete
- Grenzregime zu Nachbarstaaten mit Hilfe internationaler Schutztruppen errichten
- Förderung Palästinas als gleichberichtigtes unabhängiges Land neben Israel
- Unterzeichnen eines Nichtangriffspaktes zwischen beiden Ländern
- Syrien den Frieden erklären
- regionale Regulierung der Ressourcen, insbesondere bei Wasser
- Verabschiedung einer verbindlichen Verfassung
- Trennung von Staat und Religion
- Trennung von Politik und Armee
- Gleichberechtigung aller Bürger des Landes
- gerechte Behandlung von Gastarbeitern
- Ahndung jeglicher Form von Extremismus und Rassismus

In den Nachrichten ist immer wieder von Aktionen der Friedensbewegung zu hören. Bildet sich hier eine gestaltende politische Kraft, etwa wie die Grünen in den 1980er Jahren in Deutschland?

Nein. Diese Aktivisten gab es schon immer. Nach der Ermordung Rabins und der Enttäuschung über die geplatzten Verhandlungen zwischen Barak und Arafat gab es in allen Fraktionen der Linken ein starkes Tief. Die aktuelle Situation der Arbeiterpartei (labor party) ähnelt sehr dem Zustand der deutschen SPD bei den letzten Landtags- und Kommunalwahlen, nur eben aus anderen Gründen. Die Linke benötigt zum Sammeln neuer Kräfte einige Jahre in der Opposition. Dann erst kann sie wieder politisch wirksam in Erscheinung treten. Die Friedensbewegung ist sehr vielschichtig, aber noch nicht in der Lage, politische Mehrheiten zu bilden.

Hält sich der "Mann auf der Straße" tatsächlich noch im alttestamentarischen Sinne für den Teil eines auserwählten Volkes?

Ich wünschte, ich könnte mit nein antworten. Diese Einstellung steckt in vielen Menschen sehr tief drin und die Arroganz und der rassistisch orientierte Behaviorismus bestätigt das. Bei jeder Gelegenheit vergleichen wir uns reflexartig mit den "Gojim", den Nicht-Juden, also Christen, Muslime - allen anderen. Wir analysieren, ob wir schon sind wie sie und in wie weit wir anders sein sollten. Es gibt Fraktionen, die glauben, die Juden sind eigentlich nicht dafür gemacht, einen Staat zu haben. Allerdings: Weil wir nach unserer Auffassung besser sind als andere Völker, wollen uns diese vernichten. Daher benötigen wir dann doch einen Staat, um uns vor diesen Angriffen zu schützen. Jetzt aber werden wir wegen eben dieses Staates angefeindet. Ein wirklich essentielles Thema...

Madonna, Sex-Symbol des Mainstream-Pop, mutierte eben zu Esther und inszenierte die aktuelle Welt-Tournee als Werbe-Event für eine simplifizierte Kabalah. Wie empfinden das religiöse Menschen?

Dazu wird im Moment viel in den Tageszeitungen geschrieben. Die Meinung ist zweigeteilt. Manchem Anhänger der Pop-Kultur stärkt es den nationalen Stolz, wie etwa bei den Griechen der Titel der Fußball-EM. Die Religiösen empfinden es eher als Blasphemie. Um es klarzustellen: Kabalah, die Geheimlehre der jüdischen Religion, ist für Frauen tabu. Madonna ist außerdem keinen gebürtige Jüdin. Sie begeht also im Sinne der Tradition eine ‚Sünde'.
Demnächst plant sie hier ein Kabalah-Seminar. Es wird mit 1.200 Teilnehmern aus aller Welt gerechnet. Die Tourismus-Industrie frohlockt. Die Religiösen sehen die Vereinnahmung ihrer Religion skeptisch. Das Seminar wird aber in jedem Fall ein spannendes Medienereignis.

Haben Sie Heimweh nach Deutschland, Thüringen, Weimar...?

Hier muss ich lachen. In Deutschland ist mein Heimweh nach Israel größer, als das nach Deutschland, wenn ich hier bin. Das hat damit zu tun, dass ich mein Dasein in Deutschland als eine Art Selbst-Exil verstehe. Aber natürlich vermisse ich meinen Mann, mein Zuhause, meine Arbeit, meine Freunde, die unerträgliche Leichtigkeit des Lebens - nur das kalte Wetter nicht.

Source: http://capella.hooffacker.de/~j-digital/e2pp20040802abus1.html


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